Liebe

31.03.2021

Damals, in der Zeit der ersten großen Pandemie, als er aufwuchs, lernte er, dass

er schuldig war, schuldig durch sein bloßes Dasein, schuldig und unrein, denn er

hätte den Tod in sich tragen können. Ein Sensenmann sein, harmlos sich versteckend

in Gestalt eines Kindes, das zur Waffe hätte werden können, ließ es nur einmal

nach, gab es nur einmal diesem Bedürfnis Ausdruck, die Großmutter, die es liebte,

weil sie die besten Kuchen backte und nach Veilchenroch, zu umarmen. Gab es nur

einmal nach, dem Wunsch, nach draußen zu gehen, zu raufen und zu bolzen mit den

Freunden. Er war gefährlich, Leid bringend, verletzend, potentiell mörderisch.

Damals, als alle hinter Glas und hinter Masken waren, weil das Leben so empfindlich

war, so gefährdet, so schwach, lernte er, was er lernen musste, um trotzdem zu

leben. Er lernte, dass der Körper nichts ist, der menschliche Körper im Vergleich

zu den Viren, die mutieren, kaum dass sie identifiziert sind, die, unsichtbar, nicht

festzuhalten, anzufassen, die Macht an sich gerissen hatten, vor der die Gattung,

der er selbst anzugehören noch gar nicht verstand, kapitulierte.

Er lernte, jede Lüge zu glauben, er wollte, da er seine Eltern liebte, sein, was

sie in ihm sahen, ein guter Junge.

Er lernte, dass das, was er war, nichts war im Vergleich zu den nicht beherrschbaren

Kräften, die in der Natur ihr zerstörerisches Wirken austobten, wie sie sagten,

und ihm, doch selber Teil dieser Natur - die endgültig in die Knie zu zwingen der Gattung,

der er angehörte, noch nicht gelungen war - jederzeit überlegen waren. Weshalb er

dankbar war, als er, größer geworden, mit dieser Natur, der er selber angehörte, nichts

mehr zu schaffen hatte.

Denn eher empfand er Scham, nicht so perfekt zu sein, nie so perfekt sein zu

können, so ungefährlich, ungefährdet auch, wie die Kreaturen, die die Gattung, der er

angehörte, ersonnen hatte und er begann sie zu lieben, diese Kreaturen, für das, was

sie waren und er bestellte sich eine Frau, die er entband aus dem Karton, in dem sie

geliefert wurde, verlegen, schamhaft - die Haut errötete, was er hasste - und in den

Sessel setzte, sich gegenüber, um sie nur anzusehen, denn sie zu berühren wagt er

nicht.

Zumindest kann er ihr nicht schaden, ganz bestimmt nicht, was immer er mit ihr

anstellen würde, sie bliebe davon unberührt, rein, fehlerlos. Er hatte die selbstreinigende

Ausgabe geordert, die autonome, die ihn nicht brauchte. In keiner Weise.

Sie ist ein retro-Prototyp, ein eigentlich veraltetes Modell.

Sie ist so schön, war angefertigt worden exakt nach seinen Fantasien, allein sie

anzusehen löst Empfindungen, Reaktionen des Körpers, aus, die ihn verwirren,

was ihn wiederum verwirrt, denn er hatte genau gewusst, was er tat. Die

anderen, die lebendigen, fleischlichen Exemplare zu berühren hatte er nie

gewagt. Er, der Unreine, der Gefährliche, der potentiell Tödliche hätte nie die Kraft

besessen, sich einer von ihnen anzunähern, die zudem, oft gleichalt, die gleiche Scheu

empfanden, sich versteckten, selbst als ein Verstecken hinter Glas und Masken nicht

mehr nötig war. Sie versteckten sich hinter Bildschirmen, vor Bildschirmen, in

Innenräumen, in die er nicht reinkam. Sie versteckten sich hinter Rollen, die sie spielten,

um das, was sie waren, nicht zeigen zu müssen.

Sie waren gut darin, besser als er.

Er hatte sie angesehen, damals, in der Zeit der Pandemie, als er lernte, was es hieß,

ein Mensch zu sein, auf Bildschirmen jeder Größe, sie hatten gelacht, sie waren schön,

viel schöner als er, und unerreichbar trotz der drängenden Gefühle, die sie in ihm auslösten

und die er zu verachten lernte, so wie er gelernt hatte, all seine Regungen, die

das Wachsen in einen menschlichen Körper hinein, mit sich bringt, zu verachten.

Nun sitzt sie da, hier, ihm gegenüber, in all ihrer von ihm selbst gestalteten Pracht, das

Ideal des Geschlechts, das er nicht ist und nach dem er sich sehnte, das Ideal der

Unberührbarkeit, das er nicht ist, das er braucht, wie wir immer brauchen,

was wir gerade nicht sind. Und wir nennen es Liebe.

Er fühlt dies vage, wenn auch kaum, denn Fühlen hat keinen Mehrwert, hat es

nie gehabt.

Sie hält den Kopf gerade auf einem schmalen Hals und blickt ihn an. Die Beine elegant

nebeneinandergestellt, ihre schmalen Hände ruhen auf der Sessellehne. Es

ist ein Sessel aus dem Nachlass seiner Großmutter, ein weicher, samtener Stoff.

Wie er es liebte, mit den Fingern diesen Stoff entlangzufahren, sich hineinzufüllen in die

üppige Weite, nackt, ganz Haut an Haut.

Da sitzt nun sie. In all ihrer Unschuld.

Und er, ihr gegenüber, auf dem ergonomischen Arbeitsstuhl, auf dem er, ganz allein,

seine Tage verbringt, die Finger auf den Tastaturen.

Doch weiß er nicht mehr ganz genau, wozu eigentlich.

Er liebt dieses Wesen dort mit aller Kraft, zu der er fähig ist. Und irgendwie, ihm selber

unerklärbar, spürt er eine unbändige Lust, hinauszulaufen in die Welt und allen

zuzurufen:

Seht, was mein ist, seht, wessen ich würdig bin, bezeugt unseren Bund, segnet ihn.

Natürlich tut er das nicht. Er würde auch niemanden antreffen.

Sie spricht nicht, ist stumm und sollte es sein. Wozu noch Worte. Zudem überstieg die

sprechende Variante bei weitem sein Budget. Sie bewegt sich nicht. ER will sie

bewegen, will der HERR sein.

Nur einmal hatte er, es hatte einen Bonus gegeben, den Kopf in den Schoß einer

lebenden Frau gelegt. Mit warmen Händen hatte sie seine Stirn berührt, gestreichelt

fast, ganz leicht. Er hatte kaum geatmet. Mehr sollte nicht geschehen, und es war

schon fast zu viel. Dann war die Zeit auch um gewesen und das Geschäft erledigt.

Die Großmutter hatte er wiedergesehen, viel später, da konnte sie sich nicht an ihn

erinnern. Er hatte mit ihr sprechen dürfen durch ein Mikrofon, sie hatte gelächelt,

und wurde dann, ganz sanft, von der Glasscheibe fortgeführt.

Da sitzt sie, seine Liebe, in ihrem Sessel, wie schön ist der Schwung ihrer Lippen,

wie tief ist ihr Blick. Ich liebe dich, sagt er, er probt es, er probt, es zu sagen, ihr

ins Gesicht zu sagen. Ich liebe dich, sagt er. Lauter und sicherer jetzt.

Vielleicht, hofft er, wird er es wagen, sie, die er verehrt, eines Tages, vielleicht,

auch anzufassen.

Mit diesen Händen voller Keime.