Im Kreis

13.06.2019

Wenn der Ort derselbe, aber die Zeit eine andere ist, will das Denken ständig Dinge miteinander verknüpfen, die eigentlich nicht zusammen gehören. Obwohl wir wissen, dass sie nicht zusammen gehören, geschieht es, dass plötzlich, beim Anblick einer Landschaft oder eines Gegenstands oder beim Hören einer Musik die Zeit einfach in sich zusammenfällt und dann ist uns, als hätten wir uns im Kreis bewegt und wären wieder am Ausgangspunkt angekommen und es dauert, bis wir begreifen, dass wir uns eher in einer Spirale bewegt haben und dass der Ausgangspunkt, an dem wir wieder ankommen, gar nicht mehr existiert, oder vielleicht existiert er doch, aber auf einer ganz anderen Ebene.

Später hatte sie immer gesagt, es sei ein Traumurlaub gewesen, alles habe gestimmt, das Wetter, der Ort, die Gefühle. Sie sagte das so strahlend, dass wir ihr glauben mussten, nicht ohne Neid, denn wer erlebt es schon, dass einfach alles stimmt. Es sei gewesen, sagte sie, wie sie sich einen Traumurlaub immer vorgestellt habe, nein, eigentlich habe sie gar nicht gewagt, sich so einen Urlaub vorzustellen, aber wenn sie gewagt hätte, sich einen Traumurlaub vorzustellen, dann wäre er so gewesen wie dieser damals in Thailand. Wir ließen jede Kitschranke hochfahren und sahen die beiden sich umarmen im warmen thailändischen türkisfarbenen Meer, sahen sie küssend auf einem Boot bei glühendem Sonnenuntergang, sahen ihn, der sie fütterte mit köstlichen exotischen Früchten und dann sahen wir ihn den Saft der Früchte von ihren Lippen lecken in einem Doppelbett mit Blick aufs Wasser durch riesige Flügeltüren.

Und also, weil die Erinnerung an diesen Urlaub damals so lebendig, so farbenfroh, so extatisch war, fuhren sie wieder dorthin, in dasselbe Hotel, auf einem Berg, an der Andamannensee, teuer, exklusiv, wunderschön. Zwar lag sie nicht mit ihm im selben Doppelbett, denn das Zimmer von damals war leider vergeben, aber das jetzige Zimmer sah eigentlich genauso aus, nur eine Etage tiefer und der Blick aufs Meer ging durch riesige Flügeltüren. Draußen auf der Loggia stand eine Badewanne, die hatte es damals noch nicht gegeben, beim Anblick dieser Wanne sah sie sich und ihn bei Sonnenaufgang Sekt trinkend im Wasser liegen und dann würde er ihre Füße küssen. Welch eine Vorstellung! Nachdem sich der Schleier endlich gelüftet hatte, der sich, könnte man annehmen, im Laufe der Jahre auf und um sie gelegt hatte - oder nein, der eigentlich immer schon dagewesen war, dieser Traumschleier, hätte sie sich um nichts in der Welt mehr in diese Badewanne gelegt mit ihm. Und ihre Füße wollten mitnichten geküsst werden, sondern so schnell wie möglich das Weite suchen.

Wenn der Ort derselbe und aber die Zeit eine andere ist, dann sind auch wir die anderen, da wir außerhalb der Zeit nun mal gar nicht sind. Aber das zu glauben fällt uns schwer, weil zum Beispiel das Frühstückbüffet und der Platz auf der Terrasse, an dem wir sitzen, und die feuchte Wärme der Luft und auch die Geräusche wieder dieselben sind und sogar der Kellner von damals läuft noch auf der Terrasse herum, der, der das eine Bein so nachzieht und sich oft räuspert. Und der Mann gegenüber von uns, mit dem wir hier sind, ist eigentlich auch noch derselbe, er hat nur ein paar weniger Haare am Hinterkopf und an den Schläfen und einen nicht ganz unerheblichen Bauchumfang, den er damals nicht hatte, und er guckt sie einfach nicht an, was aber nicht weiter tragisch ist, da sie ihn eigentlich so gern auch nicht anguckt, was sie verwundert zur Kenntnis zu nehmen gezwungen ist.

Es ist ihr eigentlich auch ziemlich gleichgültig, dass er da neben ihr in diesem riesigen Bett liegt, nackt, auf den straff gezogenen Laken und irgendetwas in seinem Laptop recherchiert, was er ihr vermutlich später irgendwann, wenn er wieder aufgetaucht ist, in knappen Worten mitteilen wird, ohne dass es sie interessieren würde. Da kann sie auch einfach ihre Fußnägel lackieren, sehr gründlich, sehr schimmernd und schön und die Beine in die Luft strecken und die Fußnägel bewundern. Als er einschläft, den Laptop zugeklappt neben sich wie ein geliebtes Haustier, macht sie das Licht aus, hier wird es ja immer so früh dunkel, unglaublich, und starrt in die schwachen Schatten an der Decke. Sieht sich selbst in diesen Schatten an der Decke herumlaufen, damals, so verliebt, so glücklich, in diesem Traumurlaub, am selben Ort, aber zu einer anderen Zeit und überlegt, dass er immerhin sehr gut mit diesem Laptop umgehen kann, viel besser als sie, und wenn sie später die Urlaubsfotos zu einem Album zusammenstellen wird - gegebenenfalls wäre es ratsam, sie mit einem Weichzeichner leicht zu verfremden - wird sie ihn bitten müssen, ihr zu helfen, weil sie bei diesen Arbeiten immer so schnell die Geduld verliert, er aber nicht. Er kommt dann mit diesem verpflichtungsunwilligen Zug um den Mund zu ihr und hilft ihr und sie bedankt sich, so ist es.

Aber der Körper, der hier neben ihr liegt, den sie damals verschlingen, verschlucken, schlürfen, sich einverleiben, mit dem sie verschmelzen wollte in der feuchten Wärme, ist ihr völlig gleichgültig.

Die Deckenlampe ist die gleiche wie damals, wahrscheinlich hängen sie in jedem Zimmer, hätte er das bemerkt, aber sowas bemerkt er eben nicht, für Inneneinrichtung ist sie zuständig, hätte er eine dieser Bemerkungen gemacht, die er immer macht, wenn etwas seinen Sinn für Erneuerung, Wachstum, Verbesserung stört. Die Lampen hier gehörten auch mal ausgewechselt, oder so. Und sie? Wahrscheinlich gehörte sie auch längst ausgewechselt, aber dazu war er zu feige.

Damals, aha, war sie neu gewesen, das ist es. Alles war neu gewesen, der erste gemeinsame Urlaub, das erste Mal Asien, man konnte sich so wunderbar in diesen Schleier hineinhüllen, in diesen Weichzeichner der Verliebtheit, auch er, derselbe, wie der hier jetzt auf dem Bett, war neu gewesen, der Prozess des Einverleibens hatte gerade erst begonnen, deshalb der Weichzeichner also, man durfte einfach nicht so genau hinsehen, sonst wäre er vorzeitig gestoppt worden.

Und plötzlich, während sie an diese nur schwach wahrnehmbare Deckenlampe und die sanften Schatten starrt, zerreißt dieser Schleier und sie hat das Gefühl, sich in einem Rad zu befinden, das sich dreht und dreht, vor und zurückdreht, und immer wieder kommt sie an demselben Ausgangspunkt an, auf diesem Bett hier, mit den straff gezogenen weißen Laken, in diesem Hotel, in diesem Land, bis sie nicht mehr genau unterscheiden kann, ob nun jetzt ist oder damals und begreift, dass das eigentlich auch egal ist, denn wenn der Schleier einmal zerissen ist und man die Dinge so scharf sieht, so gnadenlos, dann kann man hier liegen bleiben und einfach weitermachen oder man kann auch die Sandalen anziehen, das Kleid, man kann den Koffer packen und dem schlafend Daliegenden noch einen letzten Blick hinterherwerfen, er wird es nicht kapieren, er wird sich die wenigen Haare raufen und fassungslos nach ihr suchen, das ganze Hotel wird er aufmischen - er wird an Mord und Totschlag denken, und dabei nicht einmal so falsch liegen - weshalb man dann besser schnell noch einen Zettel schreibt und auf den Platz legt, auf dem der Körper zuvor gelegen hatte. Dann macht man wohl die Tür zu, geht durch die Lobby, nimmt ein Taxi nach Bangkok und sucht im Handy nach dem nächsten Flug.