Falsche Taktung

12.05.2019

Am Morgen läuft sie durch die Wohnung zum Soundtrack aus dem Film "Bodyguard", im Bademantel, irritiert, weil sie vergessen hat, was sie eigentlich suchte. Irgendetwas scheint sie doch zu suchen, weil sie jetzt bereits einige Minuten umherrennt, Houstons Lieder mitsummt und das Gefühl hat, etwas sei unwiederbringlich verloren und sie müsste es wiederfinden, nur: Was war das bloß? Die Lesebrille, das Feuerzeug? Nein. Sie setzt sich auf den Sessel vor dem Fenster, stellt die Musik ab und zieht die Knie an. An den Beinen perlt noch etwas Wasser vom Duschen, die Füße werden langsam kalt.

Es ist einer dieser Momente völliger Leere, in dem die Zeit stillsteht, in dem die Maschinerie, die sonst immer irgendwie weiterläuft, irgendwelchen Zielen nach, meistens sehr kleinschrittig: Jetzt Marmelade aus dem Kühlschrank holen, jetzt Kaffee aufsetzen und so weiter, plötzlich versagt und man einfach nicht mehr weiß, welches der nächste Schritt ist. Dann fällst du in ein Zeitloch, strudelst dich immer tiefer hinein, wenn du das zulassen kannst, wirst du irgendwann den Boden berühren und kannst dich dann dort abstoßen, um wieder hinaufgeschleudert zu werden, ans Licht, an die Luft, und die Maschinerie tuckert sich langsam wieder ein. Wenn du es nicht zulassen kannst, Angst hast vor dem Fallen oder besser Hinabgezogenwerden, strudelt dich der Strudel durch den ganzen Tag, wirst du umhergeworfen, läuft die Maschine zwar irgendwie noch, aber fehlerhaft, was du gar nicht richtig bemerkst, weil du so damit beschäftigt bist, dich irgendwie oben zu halten, sodass du erst am nächsten Tag - falls die Nacht und der Schlaf dir zur Seite standen - feststellst, was zu korrigieren ist.

Das Fenster steht auf und draußen singt ein Vogel. Das ist gut. In den morgendlichen Gesang eines Vogels kann man sich ein Weilchen schön hineinentspannen, einfach hinhören, mitschwingen, Ohren weit aufgespannt, Ohren so weit aufgespannt, als könne man durch Lauschen die ganze Welt in sich saugen, riesige Ohren, wie Dumbo, der fliegende Elefant. Das ist jetzt wieder ein ablenkender Gedanke, Dumbo, der fliegende Elefant hat hier nichts zu suchen, dann kommt man von da auf Pocahontas, auf Bambi und Schneewittchen und dann weiß man plötzlich, was man zu tun hat: Aufstehen, sich krank melden und im Internet einen alten Disneyfilm gucken. Ohren auf! Vogel lauschen! Sie will sich nicht krank melden. Sie ist nicht krank. Das weiß sie mit Sicherheit, obwohl es ein verführerischer Ausweg wäre.

Draußen plötzlich ein weiteres Geräusch, der Briefkasten klappert, die Zeitung wird gebracht. Genau! Sie hatte die Zeitung holen wollen, denn das Frühstücksritual beinhaltet das Lesen derselben, da man wissen muss, was in der Welt geschieht, wie das Wetter wird, wer gestorben ist und ob man das Kreuzworträtsel lösen kann. Das wäre der nächste Schritt gewesen: noch im Bademantel zum Briefkasten gehen, die Zeitung entnehmen und sich in die Nachrichten vertiefen. Als ob das notwendig wäre. Sie hat nicht das geringste Interesse daran zu wissen, was in der Welt geschieht, wie das Wetter wird und wer gestorben ist. Morgen früh ist es sowieso wieder dasselbe. Oder ganz anders. Jedenfalls irrelevant. Sie kann eh nichts daran ändern. Ob irgendwo in der Welt narzistisch gestörte Präsidenten sich zerstreiten oder wieder vertragen, ob irgendwo paranoide Generäle oder Diktatoren Kriege anzetteln oder fortführen, ob der Planet, auf dem sie hier sitzt, noch lange durchhält, was kann sie daran verhindern oder dazu beitragen? Und wozu muss sie es dann wissen, wenn sie es sowieso nicht gestaltend beeinflussen kann? Doch allenfalls, um mit den Kollegen in der Pause ein paar freundliche Übereinstimmungen festzustellen und sich als informiert zu erweisen. Dennoch kann man ja nicht einfach hier sitzen bleiben. Noch immer singt der Vogel, melodisch, in angenehmer Lautstärke, irgendwann wird er den Ast, auf dem er gerade sitzt, verlassen. Warum? Was, überlegt sie angestrengt, wird diesen Vogel motivieren, diesen Ast zu verlassen und woanders hinzufliegen? Woher kommt bei Vögel der Antrieb, aktiv zu werden? Warum kann so ein Vogel das und sie nicht? Während der Vogel schon weitere Hunderte Äste angeflogen haben wird, wird sie weiter hier sitzen, mit angezogenen Knien, kalten Füßen, die immer kälter werden, sie wird langsam austrocknen, verhungern, sich auflösen, in den Sessel schmelzen. Sie würde lieber mumifizieren, aber dazu ist es zu warm.

Nicht mehr wirklich lauschend, schon ist die Konzentration verflogen, ist ihr klar, dass sie natürlich einen Blick auf ihr Handy werfen könnte: E-Mails, Whatsapp Nachrichten checken, sich vernetzen. Sich hineinwerfen ins Netz, in dem sie dann zappeln kann wie eine Spinne, die sich selbst eingesponnen hat und nun nicht mehr herauskann. Irgendwelche Dramen werden sich schon abgespielt haben, irgendwer wird irgendetwas Tolles gepostet haben, irgendwelche Fotos geschickt oder auch Horrorinfos von was auch immer. Das kann einen dann eine Weile beschäftigen, meistens muss man auch antworten irgendwie, man will sich ja nicht völlig ausklinken, man ist ein Mensch und also ein soziales Wesen, aufeinander angewiesen sind wir, voneinander abhängig, in jedem Falle vernetzt, ob wir es wollen oder nicht.

Wie lange dauert dieser Zustand jetzt an? Die Zeit muss weitergelaufen sein, das tut sie einfach, ganz unabhängig davon, ob wir mit ihr laufen oder stille stehen. Es ist nicht das erste Mal, dass sie sich in diesem Zustand wiederfindet und er hat auch durchaus nicht nur unangenehme Züge. 6 Uhr 14, also seit mehr als zwanzig Minuten sitzt sie hier rum und um 7 Uhr 05 geht ihr Zug. Wenn sie also diesen Zug erreichen will, muss sie jetzt aufstehen. Hat die Maschinerie nur stillgestanden, weil sie einfach zu früh aufgestanden ist? Also hat die offenbar die Zeit falsch getaktet. Hatte sie immer so lange getrödelt am Morgen? Was hat sie sich bloß dabei gedacht, den Wecker so früh zu stellen? Wenn sie fortan später aufstünde, könnte sie sich diese leeren Zeiten gar nicht leisten, dann wäre die Spannung in der Maschinerie von Anfang an so groß und der Zeittakt so eng, dass sie sich beeilen müsste: Duschen, anziehen, frühstücken, Zeitung überfliegen, losgehen, Zug nehmen. Das ist die Lösung. Man muss sich auch nicht Whitney Houston antun mogens um 6 Uhr, man kann die notwendigen Handlungen auch geräuschlos und konzentriert erledigen.

Sie steht auf und stellt die Zeit am Wecker neu ein.