Dazwischen

09.06.2019

Wir hatten ihre Schwangerschaft miterlebt. Wir hatten uns gefreut für sie und ihren Mann. Sie passte gut auf sich auf, aß gesund, bewegte sich, fühlte sich fit und richtete das Kinderzimmer ein. In den letzten Wochen wurde sie träge und saß einfach im Sessel und hörte uns zu. Wir rückten ihr einen Hocker für die schweren Beine vor den Sessel und ließen sie Nest sein, Nest für ein neues Wesen, das nun schon fast fertig gewachsen war in ihr und das wir bald in unserer Mitte begrüßen wollten. Dieses Wesen war schon anwesend, in unseren Herzen, in unseren Zukunftsvorstellungen, in unserem Blick auf ihren prallen Bauch, über dem sie die Hände gefaltet hatte. Wir mussten nur warten.

Dann verschwand sie. Ihr Mann ging nicht ans Telefon. Der Geburtstermin war überschritten und wir hörten nichts von ihr. Wenn wir uns trafen, zuckten wir mit den Schultern oder schüttelten den Kopf.

Als sie endlich wieder zu einem Treffen kam, sagte, das Kind sei da, wollten wir jubeln, umarmen und Glückwünsche und Geschenke verteilen. Sie aber hob die Hände und sagte, das Kind sei krank, sehr krank, laut Aussage der Ärzte würde es nicht lange mehr leben. Es gebe keine Heilung. Da wollten wir sie umarmen und weinen, unser Beileid aussprechen, das Entsetzen teilen. Sie jedoch drehte sich um und ging. Und so standen wir da in diesem Zustand dazwischen, in diesem Niemandsland, diesem Kreuzigungspunkt zwischen Glückwunsch und Beileid, Geburt und Tod. Und dann ertrugen wir es nicht länger und gingen nach Hause. Jede für sich.

In den nächsten Wochen hörten wir nichts von ihr und wir riefen auch nicht an. Wir ließen die Geschenke in den Einkaufstaschen, weil wir nicht wussten, ob das Kind sie jemals brauchen würde. Wir, die wir so gerne geben wollten, gaben nichts. Schwiegen. Wagten nicht uns zu erkundigen, weil wir die eigentliche Frage nicht stellen wollten. Stellten uns selbst diese Frage, immer wieder, die Frage nach dem Warum, nach dem Sinn. Und fühlten uns der Freundin ganz nah in Gedanken, in ihrer Freude und in ihrem Schmerz. Gleichzeitig.

Ein Mensch kommt zu uns und sofort beginnen wir, in die Zukunft zu denken. Wir planen und machen die Dinge mit einem ständigen "um...zu". Wir ernähren uns gut, um dem Kind gesundheitlich die besten Startchancen zu geben. Wir lesen Erziehungsratgeber, um bei der Erziehung keine Fehler zu machen. Wir fühlen uns verantwortlich für das, was auf diesem unbeschriebenen Blatt Papier geschrieben stehen wird, das in Wahrheit gar nicht leer und unbeschrieben ist, was wir aber nicht sehen, da wir unsere Macht zu sehr wollen, unsere eigene gespiegelte Schöpfungskraft. Wir suchen Kindergärten, Schulen aus, um die besten Voraussetzungen zu schaffen. Wir denken an Spiele, Ausflüge, Urlaube, sehen uns selbst im Alter ein Foto anblicken, auf dem wir das Kind in die Luft werfen vor blauem Hintergrundhimmel. All unsere Pläne sind auf die Zukunft gerichtet. Weil ein neuer Mensch ein Versprechen auf die Zukunft ist.

Wir lebten unsere Leben weiter wie bisher. Nur manchmal, ganz plötzlich flog er uns an, der Gedanke, lebt es noch, das Kind? Und dann fürchteten wir uns und machten schnell weiter mit unseren Leben, denn wir waren voller Mitgefühl.

So vergingen die Wochen. Mit der Zeit verlor das Wissen um das Schicksal der Freundin den anfänglichen Schrecken, so wie das eben immer ist, wenn die Zeit die Dinge, auch den Schrecken, dehnt und damit entschärft. Wir gingen an den Einkaufstüten mit den ungegebenen Geschenken vorbei und gewöhnten uns daran. Wir konnten auch untereinander wieder sprechen und gelegentlich hatte eine Nachrichten, vom Mann der Freundin, von der Freundin selbst. Wir respektierten ihren Rückzug und unsere Hilflosigkeit und waren in Gedanken bei ihr. Sie wusste das.

Es war gnädig, dass wir diese Zeit hatten, denn langsam, sehr langsam, begannen wir zu verstehen.

Das "um...zu" dieses Wesens, das wir schon geliebt hatten, als es noch verborgen war im Bauch der Freundin, für uns. Was es uns geben konnte, uns, die wir ihm nichts geben konnten, da wir nicht gelernt hatten, den Augenblick zu würdigen. Da wir, gekreuzigt an Vergangenheit und Zukunft, gebunden waren an unsere Urteile, Wertungen, Wünsche, das Gaukelspiel der Vorstellungen und Gedanken, unsere Angst. Wir schauten unsere Kinder an und sahen, was gut war. Wir schauten unsere eigenen Wünsche und Vorstellungen an und ließen sie los. Wir ließen sie los, die Sorgen um schlechte Noten, ungeeignete Freunde, Bewerbungsmappen. Wir schauten unsere Männer an und sahen sie wirklich und ließen unsere Vorstellungen los. Wir gaben sie ab, unsere Macht, die wir so liebten und verstanden, dass jedes Leben immer nur einen Augenblick hat, egal wie lang dieser sein mag, dass jedes Leben sich immer, in jedem Augenblick zwischen Glückwunsch und Beileid, Geburt und Tod bewegt, ganz und gar in der Gegenwart, auch das eigene. Dies war das Geschenk des Kindes an uns.

Und als dann die Freundin endlich kam mit dem Kind - die Prognose war sehr schlecht - schauten wir es an in Dankbarkeit, und es schaute, festgeschnallt, bewegungslos, verformt, mit Liebe zurück.