Schmetterling

12.06.2019

Schmetterling

Er war ein strenger und prosaischer Mensch. Kaum teilten wir seine Vorstellungen, wie die Dinge zu sein hatten. Eher wunderten wir uns, dass er das immer so genau zu wissen schien. Wie die Dinge zu sein hatten. Wie man sich zu verhalten hatte. Was das Richtige war. Da schien er keine Zweifel zu kennen. Und er duldete es nicht, wenn man sich ihm widersetzte. Wir arbeiteten uns ab an ihm, manch einer verzweifelte auch. Die meisten von uns, seiner Familie, distanzierten sich einfach, gingen fort, sahen ihn selten, sobald das möglich war. Denn wenn alle um den Tisch saßen und er endlich erschien, verstummte das Gespräch.

Er sorgte für uns. Stets hatten wir, was wir brauchten, worum wir vielleicht baten, das brauchten wir nicht wirklich. Seine Frau, unsere Mutter, schien ihm ergeben. Warum, das wussten wir nicht, verstanden es auch nicht, aber wir fragten nicht nach. Die Dinge waren, wie sie waren, so, wie er sie gefügt hatte, und als er schließlich krank wurde, telefonierten wir mit den Ärzten, mit der Mutter, recherchierten Heilmittel im Internet, aber besuchten ihn nicht. Wenn es einer von uns vielleicht doch einmal tat, aus Zufall eher, weil er gerade in der Stadt zu tun hatte, oder weil etwas abgeholt oder zurückgebracht werden musste, erschrak er über sein Aussehen. Er, sonst groß und so stark, dass man sich vor ihm fürchtete, war klein und mager geworden, und wenn er ein Glas hob, zitterte seine Hand. Auch sprach er, dessen Stimme immer den Raum, das Haus, das ganze Land gefüllt hatte, leise, langsam und ungenau, so dass man sich zu ihm beugen musste, um ihn zu verstehen, was unangenehm war, denn so viel Nähe waren wir nicht gewohnt. Er roch auch seltsam, nicht mehr nach Arbeitsschweiß, Erde und Tier, sondern süßlich, wie ein Frühling voller Blütenstaub.

Wir wollten das nicht glauben, und wenn wir miteinander sprachen, erwähnten wir es nicht. Wir sprachen aber, ganz in seinem Sinne, von den Dingen, die waren, wie sie zu sein hatten und waren stark und groß.

Einmal nur, erzählte die Schwester später, nach dem Geburtstagstreffen, habe er ihr etwas gesagt, das sie erstaunte. Er hatte sie hingewiesen auf die Schublade in der Eichenkommode, die seit immer im Esszimmer stand, denn in dieser Schublade seien ein Testament und alle wichtigen Unterlagen und sie, die das am besten wohl könnte, solle sich darum kümmern, denn er könne es dann wohl nicht mehr, wenn er ein Falter sei. Ein was? Er schloss die Augen. Ob er gesagt habe, dass er ein Falter sei? Ob er meine, ein weißer Falter? Ein Schmetterling? Hatte sie ihn falsch verstanden? Er nuschelte so. Er schwieg und sie fragte nicht weiter nach. Über diese Dinge redete man nicht. Man tat, was zu tun das Richtige war, einen stabilen Sarg aussuchen, mit dem Pfarrer sprechen, eine Anzeige in die Lokalzeitung setzen lassen, Butterkuchen backen für den Beerdigungskaffee.

Als sich der Geburtstag des Toten näherte, backte die Mutter seine Lieblingstorte, eine Rhabarbertorte mit sehr viel Schlagsahne und stellte sie auf den Tisch. Sie hatte alle eingeladen und es waren alle gekommen, so wie jedes Jahr. So war es richtig, so musste es sein. Die zweite Schwester, die bereits die Nacht zuvor im Elternhaus geschlafen hatte, da sie sehr weit weg wohnte, erzählte, sie habe in der Nacht einen seltsamen Traum gehabt. Sie habe von einem weißen Schmetterling geträumt, der, das wusste sie genau im Traum, der Vater gewesen sei. Ausgerechnet ein Schmetterling, witzelte der dritte Bruder, das passt ja. Ob sie sich sicher sei, dass sie nicht von einem Walross geträumt habe? Oder ob nicht vielleicht ein Walross einen Schmetterling verschluckt habe, aus Versehen, aber der Vater sei nicht der Schmetterling, sondern das Walross gewesen, oder vielleicht doch der Schmetterling. Dann hielt er den Mund, weil die Mutter den ihren schmerzlich verzog und man ja einmal im Jahr sich zusammenreißen kann.

Die Rhabarbertorte, die Lieblingstorte des Vaters, die nicht unsere Lieblingstorte war, stand in der Mitte des Tisches. Wir sprachen schnell, durcheinander, erzählten uns, wie groß und stark wir waren, die Mutter schwieg und schnitt die Torte an. Dann setzte sie sich und niemand griff zu. Denn durch das geöffnete Fenster erschien plötzlich ein weißer Falter, flog um den Tisch, flog über jeden Einzelnen von uns, ließ sich für einen Moment auf der Torte nieder, breitete dann wieder die Flügel aus und verschwand.

Wir verstummten. 



Dies ist ein Mond-Saturn-Text. 

Der Saturn wird hier verkörpert durch den strengen, dominanten Vater, der die Familie (astrologisch das vierte Haus) führt und kontrolliert, auch Angst erzeugt. Dennoch ist auch hier eine Liebe spürbar, die durch den zarten Schmetterling am Ende zum Ausdruck kommt. Hier steht der Saturn im vierten Haus und hält, über den Tod (Pluto) hinaus, die Familie zusammen.